Marianne Weil
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Hans Flesch in Berlin. Als das Hören neu erfunden wurde

Zeichnung von B. F. Dolbin in „Querschnitt“ 1930

 

Der folgende Text von ca. 20 Seiten basiert auf zwei meiner Radiosendungen aus den 1990er Jahren und einem Artikel in der Zeitschrift „Rundfunk und Geschichte“ aus dem Jahr 1996. Er konzentriert sich auf das Berliner Kapitel der Arbeit Hans Fleschs und den Beleidigungsprozess aus dem Jahr 1932. Ich habe die Texte zusammengeführt und der besseren Lesbarkeit wegen gestrafft.

 

Hans Flesch in Berlin. Als das Hören neu erfunden wurde
Erst ein Überblick über die vier Kapitel, danach das komplette Skript (als PDF und Direkttext):

1
Berliner Rundfunk 1929. Hans Flesch kommt als neuer Intendant in die Reichshauptstadt. Er kommt mit großen Plänen und einer Fülle neuer Ideen. Viele davon hat er realisiert, fast alle sind längst Rundfunk-Alltag geworden – aber damals waren sie neu und mussten erst einmal erfunden werden.

2
Ausgerechnet da, wo Hans Flesch für seine Arbeit die größte Unterstützung gebraucht hätte, ausgerechnet im Voxhaus am Potsdamer Platz sitzen Gegenkräfte: bedeutende, einflussreiche, verdienstvolle, langjährige Mitarbeiter, die ihre Macht und ihren Einfluss durch den neuen Intendanten gefährdet sehen.

3
Flesch will den Rundfunk nicht nur lebendiger und aktueller gestalten, er ist ein Avantgardist, der das Neue am neuen Medium propagiert und der das Technische nicht fürchtet. Er sieht im Radio „eine wundervolle Synthese von Technik und Kunst“. Damit macht er sich nicht nur Freunde. Ein bizarrer Streit entfaltet sich unter der Schlagzeile LIVE oder als KONSERVE.

4
Im Januar 1931 zieht die Berliner Funk-Stunde vom Vox-Haus am Potsdamer Platz in das neue Funkhaus an der Masurenallee. Es hätte ein glanzvoller neuer Anfang sein können. Doch das Land befindet sich in einer Krise und Hans Flesch wird zur Zielscheibe einer Kampagne. Im Mai 1932 findet vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit ein Prozess wegen Beleidigung statt.

Prozessakte im Beleidigungsprozess gegen Reinhold Scharnke 1932

 

Komplettes Skript als PDF:

Hans Flesch in Berlin

 

Hans Flesch in Berlin. Als das Hören neu erfunden wurde

Die Geschichte ist nicht gerecht. Wenn ein Mann nichts mehr erzählen kann, weil er tot ist, dann dominieren die Erzählungen derer, die überlebt haben. Nach 1945 erinnerte kaum jemand an Hans Flesch – zumindest nicht in Berlin. Dabei war er in den drei wichtigen Jahren von 1929 bis 1932 Indendant der Berliner Funk-Stunde, des ersten deutschen Radiosenders. Er war in die Hauptstadt des Reiches gerufen worden, in der das Publikum und Kritiker über Langeweile und Provinzialität des Programms stöhnten. Er war begeistert begrüßt worden und hatte viele neue Ideen mitgebracht. Doch die Zeit war kurz und die Gegenkräfte groß: Im Innern des Apparats wurden alte Rechte verteidigt und von außen brandete die Wirtschaftskrise gegen die noch gar nicht so alten und sowieso nicht demokratisch gefestigten Mauern des Rundfunks an. Nach zahlreichen Anfeindungen und einem spektakulären Beleidigungsprozess wurde Hans Flesch im Sommer 1932 entlassen.

 

Der folgende Text basiert auf zwei meiner Radiosendungen aus den 1990er Jahren und einem Artikel in der Zeitschrift „Rundfunk und Geschichte“ aus dem Jahr 1996. Er konzentriert sich auf das Berliner Kapitel der Arbeit Hans Fleschs und den Beleidigungsprozess aus dem Jahr 1932. Ich habe die Texte zusammengeführt und der besseren Lesbarkeit wegen gestrafft.

 

1

Berliner Rundfunk 1929. Hans Flesch kommt als neuer Intendant in die Reichshauptstadt. Er kommt mit großen Plänen und einer Fülle neuer Ideen. Viele davon hat er realisiert, fast alle sind längst Rundfunk-Alltag geworden – aber damals waren sie neu und mussten erst einmal erfunden werden.

Im Jahr 1929 hatte der Rundfunk die erste Phase des Dilettantismus überwunden. Die Schauspieler trugen schon lange keine Kostüme mehr bei der Aufführung eines Hörspiels. Man wusste, wo man die Mikrofone für einen möglichst naturgetreuen Klang aufstellen musste. Es gab sogar schon tragbare Mikrofone, mit denen die Sprecher sich, wenn auch noch äußerst schwerfällig, im Freien bewegen konnten. Der Radioapparat war aus den Bastelstuben der Funkpioniere ins Zentrum des deutschen Wohnzimmers gerückt. Fast drei Millionen Apparate waren angemeldet, das heißt, etwa 10 Millionen Menschen konnten das Programm hören.

Doch ausgerechnet in der lebendigen, glitzernden, spannungs- und konfliktreichen Hauptstadt der Weimarer Republik galt das Radioprogramm als muffig und provinziell. Andere, kleinere Sender wie Breslau oder Frankfurt hatten sich einen besseren Namen gemacht. Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums 1928 stöhnten die Kritiker der Zeitungen über die Langeweile der Vorträge und die mangelnde Zeitnähe des Programms.

„Achtung! Achtung! Wir feiern den Geburtstag unsres lieben deutschen Rundfunks. Achtung! Herr Molkereibesitzer Bräsig spricht über „Kuhfütterung im Frühjahr“; jetzt spielt das Quartett W.X.Y.Z.; wir schalten jetzt um auf Schnectady in Amerika; der Reichspräsidänt hat soeben den Saal betreten, wir bringen seine Eröffnungsrede; Teemusik aus dem Hotel Adlon; Schuberts gesammelte Werke; die Klassiker mit verteilten Rollen gesprochen; Regie Kuno Meyer, unser beliebter Rundfunkregisseur, früher erster Liebhaber in Kyritz an der Knatter; moderne Dichtung, ja, das schon gewiss auch, Politik nicht, nein, das ist streng verboten, es sei denn sie sei richtig herum orientiert.“ (1)

Da passiert im April 1929 etwas Unerwartetes. Der Intendant der Berliner Funk-Stunde, Carl Hagemann, muss zurücktreten. Man sucht einen neuen Intendanten. Viele suchen mit, zum Beispiel Hans von Heister in der Zeitschrift „Der Deutsche Rundfunk“:

„Jugend ist entscheidend – Jugend, die mit dem Rundfunk geworden, die in ihm aufgeht, noch willig den neuen Gesetzen folgen kann, die dieses moderne Wunder vorschreibt. Wir brauchen keine Koryphäen mit großer Vergangenheit, die sie mit herkömmlicher Kunstanschauung belastet, die an ihnen klebt und ihren freien Schritt hemmt. Der Rundfunk fordert seine Generation. Jugend voran! Man wähle den Jüngsten unter den Erfolgversprechenden des Rundfunks!“ (2)

Genau das tut man. Zum Zeitpunkt, zu dem diese euphorischen Zeilen im Druck erscheinen, ist bereits entschieden, wer neuer Intendant in Berlin wird: Dr. med Hans Flesch aus Frankfurt am Main. Er ist 32 Jahre alt. Er kommt als jüngster Intendant des Reiches an den größten deutschen Sender mit dem meisten Geld in die Metropole der Macht und Interessenskämpfe. Er kommt im Juni 1929, noch vor dem schwarzen Freitag an der New Yorker Börse. Noch liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland unter zwei Millionen. Noch gibt es eine Regierung, die ohne Notstandsparagraphen regiert und noch hat die NSDAP mit 12 Sitzen im Reichstag den Charakter einer Splitterpartei. Die Republik befindet sich in ihrem letzten „goldenen“ Jahr.

Eine der wichtigsten Neuerungen des neuen Intendanten ist die Gründung einer „Aktuellen Abteilung“. Kurt Weill hatte das schon zwei Jahre zuvor gefordert. (3)

Man kann es sich heute kaum vorstellen, aber wenn zum Beispiel ein Minister ermordet oder eine Regierung gestürzt wurde, wenn der Bürgerkrieg in den Straßen der Stadt tobte oder der Grunewald brannte, dann fuhr das schnellste Medium seiner Zeit in seinem lange vorher gedruckten Fahrplan fort, als wäre nichts passiert. Zeitungen waren da schneller, sie brachten innerhalb von Stunden Berichte, Reportagen und pointierte Meinungen.

Das wollte Hans Flesch ändern. Er wollte ein „Informationsbüro“ einrichten.

„In ihm müssten 1-2 ausgesprochene Spürnasen sitzen, die besonders befähigt sind, alle wesentlichen Phänomene, die man übertragen sollte, aufzuspüren. Es gehört in das Ressort dieser Abteilung, mit den Technikern zusammen Groß-Berlin mit einem Netz von Anschlußmöglichkeiten für das Mikrophon zu versehen, damit von allen wesentlichen Versammlungsplätzen, Vortragssälen usw. jederzeit ohne lange Vorbereitungen Übertragungen möglich sind.“ (4)

Was wir heute mit dem kurzen Wort „Schalte nach … „ oder „Direktübertragung aus … „ bezeichnen, war ein noch sehr neues Phänomen, das Hans Flesch in seiner Neujahrsansprache 1930 fast umständlich beschreibt:

„Ein Instrument, das in der Lage ist, einen Vorgang während seines Ablaufs in absoluter Gleichzeitigkeit zu verbreiten, Hunderttausenden zu vermitteln, ein Instrument, das die Massen sammelt und hinführt zum Ereignis, während es geschieht, ein solches Instrument ist zeitgebunden und sein Programm entspringt der Zeit. Das Leben in all seinen Erscheinungsformen stellt den Grundinhalt des Rundfunkprogramms dar.“ (5)

In den ersten Monaten seiner Berliner Intendanz folgen die Neuerungen Schlag auf Schlag. „Politische Zeitberichte“, in Frankfurt schon bekannt, werden auch in Berlin eingeführt. Erstes Beispiel ist die Sendung der Schulden- und Reparationsdebatte in Paris im Original-Ton.

Flesch führt Kritiken ein – auch ein Novum im Rundfunk, der ja lieber gesicherte Wahrheiten als exponierte Meinungen verbreitete.

Flesch richtet eine tägliche Jugendstunde ein: Lisa Tetzner, Wolf Zucker, Alfred Döblin, Walter Benjamin gehören zu ihren Mitarbeitern.

Flesch ist der erste überhaupt, der sich um die akustische Geschichte des Mediums kümmert. Er lässt Rundfunksendungen fixieren und ein Plattenarchiv anlegen. „Rückblick auf Schallplatten“ heißt die regelmäßige Sendung.

Eine der umstrittensten Möglichkeiten des Radios kommt unter Flesch zu einer ersten Blüte: die Diskussion. Auch hier muss man sich mühsam in Erinnerung rufen: Stimmen von Leuten auf der Straße, Stimmen aus einer Gesprächsrunde zu einem aktuellen Thema, Politiker im Kreuzfeuer von Journalisten, kontroverse Meinungen – das war im Rundfunk der Weimarer Zeit absolut ungewöhnlich.

Schließlich richtet Flesch ein Studio ein, denn er war der Überzeugung, das Hören über Kopfhörer oder Lautsprecher habe eine eigene ästhetische Qualität, es dürfe nicht mit dem Hören im Konzertsaal oder Theater verwechselt werden. Komponisten und Autoren brauchten deshalb einen Ort für Experimente, in dem sie die neuen ästhetischen Mittel erforschen könnten. Am 18. August eröffnet Hans Flesch das Studio, mit einem Stück von Werner Egk, „Ein Cello singt in Daventry“, nach einem Text von Robert Seitz.

All diese Programmneuheiten werden zumindest von der liberalen Presse mit Wohlwollen aufgenommen. Die Zeitschrift „Funk“ würdigt Hans Flesch nach einem Jahr:

„Er hat (…) die muffige Atmosphäre von weltanschaulicher Intoleranz gereinigt und dem freien Wort Geltung verschafft, das in Diskussionen vorgebracht werden konnte. Mit einem Male konnten die Eigensinnigen auch die Ansicht des weltanschaulichen und politischen Gegners hören, ohne dass ihnen Schaden an Leib und Seele geschah. Und dann hat Flesch die Mission des einzigartigen Instruments Rundfunk begriffen, das ohne Vorbild ist, das weder Theaterkopie noch Vortragsmaschine oder Massengrammophon sein soll.“ (6)

 

 

2

Ausgerechnet da, wo Hans Flesch für seine Arbeit die größte Unterstützung gebraucht hätte, ausgerechnet im Voxhaus am Potsdamer Platz sitzen Gegenkräfte: bedeutende, einflussreiche, verdienstvolle, langjährige Mitarbeiter, die ihre Macht und ihren Einfluss durch den neuen Intendanten gefährdet sehen.

Zum Beispiel Alfred Braun. Als Hans Flesch nach Berlin kommt, hat Alfred Braun mehrere ruhmreiche Kapitel hinter sich. Unter seiner Leitung stand die gesamte theatralische und literarische Sprechkunst der Funk-Stunde. Er hatte die legendäre Aufführung von Wallensteins Lager am 3.1.1925 inszeniert, bei der Pferde im Funkhaus am Potsdamer Platz die Steinstufen hinauf- und herunterklapperten und die Schauspieler in historischen Kostümen zwischen Requisiten des 30jährigen Krieges agierten. Unter seiner Leitung wurden die ersten Erfahrungen bei der Verwandlung von Schauspielern in Hörspieler gesammelt. Er hatte die gerade entstehende Kunst der Radio-Reportage zu großer Meisterschaft entwickelt – einige glücklich überlieferte Ton-Dokumente belegen das.

 

Alfred Braun war Ansager, Regisseur, Sprecher, Rezitator und Reporter in einem. In der Presse wird von einer Monopolstellung gesprochen. Hans Flesch wird bei seinem Antritt 1929 gewarnt.

„EIN MANN GEGEN DIE RUNDFUNKCLIQUE!

Der neue Berliner Rundfunkintendant, Dr. Flesch, ist ernannt worden. Wird seine Arbeit fruchtbarer sein als die seines Vorgängers? Sie wird es nur sein, wenn er energisch mit der Monopol-Wirtschaft in der Berliner Funkstunde aufräumt. In Berlin gibt es Piscator, Erich Engel, Karlheinz Martin, Fehling, Jeßner und ein Dutzend anderer Regisseure. Wer führt Regie im Rundfunk? Alfred Braun. In Berlin gibt es: Egon Erwin Kisch, Kötzel, Lania und ein Dutzend anderer guter Reporter. Wer reportiert ausschließlich am Mikrophon? Alfred Braun. Elisabeth Bergner ist noch nie vor dem Mikrophon erschienen. Max Pallenberg hat man noch nie gehört, ebenso wenig wie Fritzi Massary. Fritz Kortner vielleicht fünfmal in fünf Jahren. Wer spielt in jedem Hörspiel die Hauptrolle? Alfred Braun. Es gibt in Berlin: Ihering, Kerr, Großmann, Fechter, Kersten, Haas, Pinthus. Wer ist alleiniger Leiter der literarischen Abteilung? Alfred Braun. Braun hat gewiss seine Meriten, aber die rechtfertigen doch kein Monopol.“ (7)

Man erwartet von Hans Flesch die Lösung dieses Problems. Und in der Tat: Die erste einschneidende Strukturreform des neuen Intendanten bedeutet die Aufteilung des Braun-Imperiums in drei selbständige Abteilungen: eine Literarische, eine Aktuelle Abteilung und eine Abteilung Sendespiele. In der Antrittsrede Fleschs vor dem Aufsichtsrat der Funk-Stunde im Juni 1929 heißt es:

„Als Leiter der Aktuellen Abteilung ist Herr Alfred Braun vorgesehen.“ (8)

Die Leitung der Sendespiele bleibt im Juni 1929 noch offen.

„Herr Braun wird durch die Bearbeitung der aktuellen Abteilung, durch seine Regie- und Sprechertätigkeit genug zu tun haben.“ (9)

Im Herbst wird die Öffentlichkeit informiert: Alfred Braun soll die Aktuelle Abteilung übernehmen, Edlef Köppen die Literarische Abteilung, aber die Leitung der Sendespiele wird nicht neu besetzt, sondern bleibt in der Hand von Alfred Braun. Ein Teilerfolg, der von Hans Tasiemka skeptisch kommentiert wird:

„Alfred Braun bleibt ein großes Tätigkeitsfeld. Er wird Chef der aktuellen Abteilung; er behält die Leitung der Sendespielbühne. Wir erwarten von Alfred Braun, daß er vor allem bemüht sein wird, neue Kräfte heranzuholen; wir erwarten von ihm, daß er Fleschs Kurs unterstützt, indem er die Heranziehung anderer Funkregisseure propagiert und fördert. Wir erwarten von Alfred Braun, daß er auch in der aktuellen Abteilung andere Kräfte an die Arbeit lässt, und dass er seine Begabung gerade in dieser Richtung geltend macht.“ (10)

Alfred Braun tut alles dies nicht. Gastregisseure bleiben in Berlin eine Seltenheit. Bei wichtigen Stücken ist es immer Alfred Braun, der nicht nur Regie führt, sondern auch die Hauptrolle übernimmt.

Im April 1930 hört Hans von Heister direkt nacheinander ein Hörspiel von Fritz Walther Bischoff aus Breslau und Hermann Kessers „Straßenmann“ unter der Regie von Alfred Braun. Danach schreibt er:

„Welch ein Abstand zwischen diesen Aufführungen! Welchen Prozinzialismus der Berliner Regie offenbarte der Vergleich, den dieses Nacheinander ermöglichte! Heute noch steht Berlin weit hinter dem zurück, was Breslau schon vor drei Jahren erreichte. Unfähigkeit? Gleichgültigkeit? Alle möglichen Gründe haben diesen Zustand verschuldet. Unheilvoll wirkt sich das jahrelange Regiemonopol Brauns aus. Bitter rächen sich seine monatelangen Theatergastspiele, in denen er seine Hörspielaufgaben notgedrungen vernachlässigen musste. Aber das ist es nicht allein. Es ist heute unbestreitbar, dass Brauns Können an einem Ende angelangt ist.“ (11)

Als Leiter der neu gegründeten Aktuellen Abteilung versucht sich Alfred Braun dem Intendanten Hans Flesch zu entziehen. Kaum wird im November 1929 eine Geschäftsordung aufgesetzt, nach der Braun dem Intendanten untergeordnet ist und, wie es heißt, „dessen Weisungen zu folgen hat“, beschwert sich Braun. Er will dem Vorstand unterstehen. Im Vorstand aber sitzen zwei: der Intendant Hans Flesch und der Direktor Friedrich Georg Knöpfke. Knöpfke ist ein alter Freund Brauns, mit Knöpfke hat Braun schon Jahre zusammengearbeitet, bevor Flesch kam. Knöpfke und Braun sind so etwas wie ein Gespann.

Noch etwas will Alfred Braun nicht: seine Mitarbeiter sollen nichts anderes sein als SEINE Mitarbeiter. Niemand soll agieren können, ohne seine, Brauns, Zustimmung oder Duldung. Darum fordert Braun eine Umformulierung der entscheidenden Punkte der Geschäftsordnung:

„Selbstverständlich kann nur der Leiter der aktuellen Abteilung Verpflichtungen über Mitwirkungen, Veranstaltungen etc. (…) abschließen (…) selbstverständlich ist es, dass die Mitarbeiter der aktuellen Abteilung ihren Chef im Ressortleiter sehen.“ (12)

Und das soll heißen: NICHT DEM INTENDANTEN!

„Welcher Beistand war mächtig genug, Herrn Braun selbst für den neuen Intendanten unangreifbar zu machen?“ (13)

Das fragt Paul Scholl im November 1930 in der Weltbühne.

„Ist es wahr, dass Herr Braun besondere Privatrechte an der öffentlichen Einrichtung besitzt, in deren Diensten er steht? Ist es wahr, dass sein langfristiger Vertrag neben Festgehalt auch das Recht auf Beschäftigung vorsieht und ihn praktisch unabsetzbar macht, da eine eventuelle Abfindung eine Riesensumme ausmachen müsste?“ (14)

Es muss eine Dauerkrise zwischen Hans Flesch und Alfred Braun gegeben haben, auch wenn sie durch kein Tagebuch und keinen Briefwechsel belegt ist. Ein später Reflex davon ist das Totschweigen der Arbeit Hans Fleschs in den Memoiren Alfred Brauns, die im Jahr 1968 erscheinen sind. Braun, der den Krieg überlebt hat und als erster Intendant des Senders Freies Berlin im Jahr 1957 in das „Haus des Rundfunks“ an der Masurenallee eingezogen ist, erinnert sich an die „Geschichte des Deutschen Rundfunks in Berlin 1923-1932“ so, als ob es Hans Flesch nicht gegeben hätte. Der Name Hans Flesch taucht überhaupt erst auf den allerletzten Seiten auf und wird mit sieben Zeilen abgefertigt.

 

 

3

Flesch will den Rundfunk nicht nur lebendiger und aktueller gestalten, er ist ein Avantgardist, der das Neue am neuen Medium propagiert und der das Technische nicht fürchtet. Er sieht im Radio „eine wundervolle Synthese von Technik und Kunst“. Damit macht er sich nicht nur Freunde. Ein bizarrer Streit entfaltet sich unter der Schlagzeile LIVE oder als KONSERVE.

Schon ganz früh, im Jahre 1925, hat Hans Flesch dem offiziellen Hauptton der Rundfunkreden, diesem Jubel über den neuen Kulturfaktor, einen Nebenton hinzugefügt und das Technische am neuen Medium ins Spiel gebracht. Er hat den Unterschied beschrieben zwischen der Wirkung der Musik im Konzertsaal und der Wirkung derselben Musik am Lautsprecher.

„Durch die Dazwischenschaltung der Maschine wird dieser seelische Teil der Wirkung aufgehoben, zumindest stark gestört und geschwächt. Und nur der intellektuelle Teil bleibt unangefochten. (…) Das Rundfunk-Hören ist eine Art Partitur-Lesen für jedermann.“ (15)

Als einer der ganz wenigen hat Flesch die Abstraktion registriert, die die technische Reproduktion eines Musikstückes im Rundfunk bedeutet. Rudolf Arnheim wird einige Jahre später diese überwältigend neue Hörerfahrung so beschreiben:

„Dies neue Erlebnis beginnt damit, dass die Musik aus dem leeren Nichts heraus anhebt. Niemand sitzt mit gezücktem Instrument vor dem Hörer. (…) Der Klang der einen kleinen Flöte steht jetzt wirklich so beängstigend klein und verloren in einem Nichts, wie es in den Absichten des Komponisten lag, als er für den Beginn ein Solo vorschrieb.“ (16)

In einer Rede von 1928 kritisierte Hans Flesch, dass die gesamte Wortkunst des neuen Mediums in Traditionen verhaftet sei, die von der Theaterbühne stammen:

„Ich habe noch kein sogenanntes Hörspiel gefunden, das sich nicht als ein verkapptes Schauspiel entpuppt hätte, das seinen optischen Sinn verdrängt hat.“ (17)

Die neue Kunst fürs Radio müsse aber „aus dem Mikrophon heraus komponieren“:

„Ohne im einzelnen darauf einzugehen, möchte ich nur sagen, daß meiner Ansicht nach noch fast kein Dichter, der sich mit dem Hörspiel befaßt hat, daran gedacht oder die Eingebung erhalten hat, das Stück aus dem Mikrophon heraus zu komponieren, statt Vorgänge hinter dem Mikrophon zu schaffen, die dann einfach übertragen werden.“ (18)

In dieser Rede von 1928 findet man wunderbare Bemerkungen über die Intelligenz des Auges und über die verzweifelten Versuche der Tonregisseure, dem Ohr auf die Sprünge zu helfen. Vor allem aber findet man Überlegungen über das Verhältnis von „Technik“ und „Seele“, die zwar noch völlig vortheoretischen Charakter haben, aber von der Sache her ganz in der Nähe von Walter Benjamins Reflexionen über das Verschwinden des Originals im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit liegen. Auch beim Rundfunk gibt es kein „Original“ mehr, denn was auf der einen Seite passiert, ist nicht das, was auf der anderen Seite herauskommt.

„Der Hörspielregisseur (…) sollte daran denken, daß er mit Mikrophon und Sender zwischen den künstlerischen Einfluß, der von seinen Hörspielern ausgeht, und den empfangenden Hörer eine Maschine schaltet, durch die er die persönliche Wirkungskraft des Künstlers – jenes unsichtbare Band, das zwischen Publikum und Künstler geknüpft werden soll – nicht hindurchpressen kann. Will er aber aus dem Mikrophon schaffen, so führt ein Weg dazu, seinerseits zwischen Künstler und Maschine (Mikrophon) ein Medium einzuschalten, das die seelische Äußerung, die Produktion des Künstlers der Maschine erst adäquat macht. Wir glauben, daß dieses Medium der Tonfilm ist.“ (19)

Das neu eingerichtete Studio sollte Musikern und Wortkünstlern ermöglichen, mit der neuen Technik zu experimentieren. Bei der Eröffnung des Studios im Sommer 1929 sagt er:

„Für den Rundfunk, diese wundervolle Synthese von Technik und Kunst auf dem Weg der Übermittlung, gilt der Satz: Im Anfang war das Experiment. (…) Nicht nur das übermittelnde Instrument, auch das zu Übermittelnde ist neu zu formen.“ (20)

Flesch war einer der ersten, der spezielle Aufträge für Radiomusik vergab. Der „Lindbergh-Flug“ zum Beispiel von Brecht mit der Musik von Paul Hindemith und Kurt Weill ist so entstanden. Auch „Weekend“, das aufregendste Experiment unter den Hörspielen der Weimarer Zeit, urgesendet am 13. Juni 1930, ist eine Auftragsarbeit des Intendanten Flesch. Walter Ruttmann nutzte für die Montage von „Weekend“ das, was Flesch Tonfilm nannte: den schmalen Tonstreifen am Rand des Zelluloidfilms, mit dem er schneiden, blenden und montieren konnte, so wie es erst Jahre später nach der Erfindung des Magnettonbands in den Funkhäusern gängige Praxis wurde.

 

Es mag heute befremdlich erscheinen, aber die Forderung Fleschs nach dem Einsatz von Tonfilm oder Schallplatte stieß auf erbitterte Kritik. Flesch sagte, anspruchsvolle Produktionen wie Konzerte oder Hörspiele sollten nicht live gesendet werden. Man dürfe keine Versprecher, kein unverständliches Schreien im Hörspiel, keine falschen Einsätze der Streicher oder Kiekser bei den Blechbläsern senden, sondern nur künstlerisch gelungene und technisch perfekte Aufnahmen – die eben auf Schallplatte fixiert und damit auch wiederholbar seien.

Damit eröffnete er einen Streit, der bald den Charakter einer ästhetisch- ideologischen Grundsatzdebatte annahm. Dass Flesch nicht nur lieb gewordene Gewohnheiten bedrohte und ökonomische Ängste berührte, dass er eine Art Tabu verletzte und das kulturelle Selbstverständnis des Rundfunks und seiner Bewunderer in Frage stellte, zeigt die zunehmende Schärfe des Streits über „LIVE“ oder „KONSERVE“, bei dem Flesch im Verlauf von zwei Jahren von einer Avantgarde-Position in eine attackierte Minderheiten-Position geriet.

Auf einer Tagung in Wien im September 1930 plädiert Flesch erneut dafür, anspruchsvolle Programme nicht „live“ zu übertragen, sondern vorher auf einem Medium, „sei es Platte, Film oder Stillesches Band“ zu fixieren, weil nur so ein Ergebnis von „vollkommenster technischer Präzision“ zu erreichen sei. Zugleich gibt er sich große Mühe, die Einwände zu entkräften, das Lebendige gehe kaputt und der Rundfunk fördere die Mechanisierung. Er verweist auf die im Jahr 1930 gängige Praxis, auch bei Konzerten, die für eine spätere Live-Sendung vorgesehen waren, im Verlauf der Proben Mitschnitte auf Wachsplatte angefertigt wurden, die der Verbesserung der musikalischen Leistung dienten. Warum nicht die für gut befundene Aufnahme dann auch senden?

„Es ist nur ein kleiner Schritt weiter, wenn Techniker und Kapellmeister sich zusammengefunden haben und das Erreichte als optimal betrachten, nun auch dieses Optimum festzulegen und dem Hörer nichts anderes zu bieten als das.“ (21)

„Wo ist eigentlich der ästhetische Unterschied zwischen einer toten Studio-Sendung (tot, weil ein Orchester ohne unmittelbares Publikum spielt, der Künstler ohne Antwort bleibt) und dem gleichen Vorgang, dem gleichen Effekt, wenn zwischen Vorgang und Effekt eine zeitliche Verschiebung eingetreten ist? Gleichzeitigkeit ist nur beim wirklichen Ereignis Bedingung zum Miterleben. Was aber ‚ereignet’ sich im Senderaum?“ (22)

Hans Flesch, der mit seiner alles umkrempelnden Programmreform Begeisterung ausgelöst hatte, erntet nun Protest. Hans von Heister, der den jungen Intendanten zwei Jahre zuvor so enthusiastisch begrüßt hatte, äußert sich jetzt schroff.

„Sie wollen dem Rundfunk das Beste nehmen – seine vorzüglichste Eigenschaft, die ihn gerade vor Schallplatte, Film und anderen Mechanischen Reproduktionsmitteln auszeichnet: das Leben, das Wahrhaftige, das Einmalige, Gleichzeitige. (…) Sie wollen binden, was frei ist; mehr noch: Sie wollen dem Interpreten den Elan rauben, der ihn bei dem Bewußtsein beflügelt, daß er tatsächlich vor einem Millionenpublikum spielt.“ (23)

Ein halbes Jahr später bringt „Der Deutsche Rundfunk“ eine entstellende (den „Stürmer“ vorwegnehmende) Karikatur von Hans Flesch als „Hörspielmixer“, der im Labor mit tausend Gläschen und Extrakten experimentiert – wie ein vom Wahn Besessener. Wiederum ein paar Wochen später schreibt Hans von Heister:

„Es ist offensichtlich, dass Dr. Flesch sich in seine Idee verrannt und den klaren Überblick verloren hat. Denn es ist uns nicht anders verständlich, dass gerade er, dem wir bisher ein ungewöhnliches Gefühl und Verständnis für künstlerische Dinge, insbesondere für Musik, zuschrieben, eine Auffassung vertritt, die den Rundfunk aller künstlerischen Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit entkleidet und seinem Wesen geradezu Hohn spricht.“ (24)

Zur Funkausstellung 1931 startet die Zeitschrift eine Umfrage unter Musikern, Kritikern und Schriftstellern über die Alternative „direkte oder fixierte Sendung?“ und breitet in den folgenden Nummern die Antworten aus: eine höchst gemischte Palette von Pro und Contra. Die Einwände derer, die dagegen sind, reichen von ökonomischen bis zu grundsätzlichen kunstpolitischen und ästhetischen Argumenten: Man solle länger probieren, um höhere Qualität zu erreichen; die Musiker würden arbeitslos, das Musikleben veröde; wenn ein Konzert erst einmal aufgenommen sei, dann würde es immer wieder gespielt, der Rundfunk würde Geld sparen, aber die Hörer müssten immer dieselbe Interpretation hören; die Mechanisierung des Kunstlebens, die durch den Gebrauch des Grammophons, des Films und auch des Radios schon ohnehin gefährlich sei, würde noch verstärkt; das Haupterlebnis ginge verloren: das Gefühl, dass im selben Augenblick, in dem der Geigenton aus dem Lautsprecher ertöne, irgendwo im Funkhaus eine oder mehrere Geiger diesen Ton erzeugten.

Dafür waren sehr viel mehr als es der Linie der Zeitschrift entsprach. Zum Beispiel Hörspielautoren, die wussten, dass bestimmte Effekte nur mit Hilfe von Platteneinspielungen möglich sind. Einige Musiker und Musikkritiker, die der präzisen Interpretation der Partitur mehr Wert beimaßen als der genialischen Stimmung eines Dirigenten. Zu den radikalsten Befürwortern übrigens gehörte der damals noch nicht so bekannte Musikschriftsteller Theodor Wiesengrund-Adorno. (25)

In der von Hans von Heister entfachten Debatte ging es ganz merkwürdig affektvoll zu und – das ist noch merkwürdiger – völlig an der tatsächlichen Programmpraxis vorbei. Flesch war ja gerade an den ästhetischen Extrempunkten des neuen Mediums aktiv und betrieb beides: sowohl die direkte, gleichzeitige Übertragung eines Ereignisses für Millionen als auch die technisch perfekte, vorbereitete, aber eben nicht mehr gleichzeitige Sendung der sogenannten Eigenkunstwerke des Rundfunks.

Unermüdlich argumentiert Hans Flesch:

„Die Gegner des Plans möchten die Gleichzeitigkeit auch da nicht missen, wo es keinen ernsthaften Grund gibt, sie zu verlangen oder gar ihretwegen die Qualität der Sendung zu gefährden. Sie wollen das Rundfunkkonzert dem ursprünglichen so ähnlich wie möglich gestalten. Sie meinen, da, wenn von den früheren selbstverständlichen Voraussetzungen des Musikgenießens (…), dem „nunc und hic“, schon das eine, das hic, nicht erfüllt werden könne, so doch mindestens das nunc erhalten bleiben müsse. Man kommt aber einer Sache nicht näher, wenn man versucht, sie unter veränderten Voraussetzungen dem Urbild so ‚ähnlich’ zu gestalten wie möglich. Man muss sie neu betrachten.“ (26)

Fünf Jahre später schreibt Walter Benjamin seinen Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und nimmt genau von dieser Zerstörung des „Hier und Jetzt“, vom Verschwinden des Originals, von der Entwertung des Begriffs der Echtheit seinen Ausgang, wenngleich seine Beispiele aus der Geschichte der Photographie und des Films stammen.

Die Zukunft übrigens hat Hans Flesch hundertprozentig Recht gegeben. Nach 1945 entwickelten sich in bunter Mischung „live“ und „fixierte“ Elemente des Programms sowohl beim Radio als auch beim Fernsehen.

 

4

Im Januar 1931 zieht die Berliner Funk-Stunde vom Vox-Haus am Potsdamer Platz in das neue Funkhaus an der Masurenallee. Es hätte ein glanzvoller neuer Anfang sein können. Doch das Land befindet sich in einer Krise und Hans Flesch wird zur Zielscheibe einer Kampagne. Im Mai 1932 findet vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit ein Prozess wegen Beleidigung statt.

Die politische Szenerie hat sich in den ersten zwei Intendantenjahren Fleschs dramatisch verändert. Die Arbeitslosenzahlen gehen auf die Sechs-Millionen-Grenze zu. Jeden Tag müssen Betriebe schließen und verlieren Menschen ihre Wohnung. Die NSDAP sitzt mit 107 Abgeordneten als stärkste Partei im Reichstag.

Dem Rundfunk geht es verhältnismäßig gut, auch wenn die Hörerzahlen nicht mehr so rasant steigen wie in den Jahren zuvor. Er verfügt über feste Gebühreneinnahmen. Das neue Funkhaus an der Masurenallee muss umso prächtiger erscheinen, je schlechter es dem Lande geht.

Nach dem internen Konflikt mit Alfred Braun und dem öffentlichen Streit über Live-Sendungen oder Sendungen von Platte oder Tonfilm folgt eine polemische und persönlich diffamierende Kampagne gegen den Intendanten Hans Flesch, die insbesondere von einem Mann ausgeht: Reinhold Scharnke. Noch im Juli 1929, unmittelbar nach dem Amtsantritt Hans Fleschs, lief ein Hörspiel von Scharnke über den Sender „Streik im Elektrizitätswerk“, auch einige Vorträge zu musikalischen Themen gab es im Programm der Funk-Stunde. Gleichzeitig war Scharnke Redakteur der Radiozeitung „Funk-Woche“ war.

Unter dem neuen Intendanten wird die Mitarbeit Scharnkes bei der Funk-Stunde nicht fortgesetzt. Der ohnehin skeptische Ton in der Zeitschrift Funk-Woche verschärft sich. Unter dem Klarnamen Reinhold Scharnke, den Namen Eres und Altus kritisiert Scharnke das Programm der Funk-Stunde: es entspreche nicht den Wünschen der Hörer, es gebe zu wenig Unterhaltung, der Intendant vertrete nicht den Geschmack der Mehrheit, sondern den einer Minderheit. Insbesondere das Musikprogramm missfällt Scharnke.

„Der Rundfunk dient der Unterhaltung!

Und wenn Herrn Flesch das nicht passt, soll er sich die Kroll-Oper pachten und unseretwegen täglich Schönberg, Hindemith, Krenek und Weill spielen! Volle Kassen wird er bestimmt nicht haben. Unser Geld und unsere Zeit ist uns für seine Experimente zu schade! Dies sei ihm mit rücksichtsloser Deutlichkeit im Namen der überwiegenden Hörermehrheit ins Gesicht gesagt!“ (27)

Im März 1930 startet die Funk-Woche eine Umfrage: „Was wollen Sie hören?“ Das Ergebnis der Umfrage wird zwar erst im September veröffentlicht, doch macht die Aktion Stimmung. Dazu gehört auch die platzierte Veröffentlichung von anonymen Briefen, zum Beispiel diesem:

„Alle äußeren Anzeichen eines Bankerotts im Berliner Sendeprogramm sind vorhanden. Herr Dr. Flesch, wollen Sie nicht einsehen, dass die wenigen Monate Ihrer hiesigen Wirksamkeit genügten, das funkische Kapital Berlins in Grund und Boden zu wirtschaften!! Sind Sie so arrogant oder so verblendet?? Haben Sie so wenig Ehrgefühl, dass man es Ihnen noch deutlicher sagen muss, wie sehr der größte Teil der Berliner Hörerschaft das Ende Ihrer unheilvollen Tätigkeit herbeisehnt? Gehen Sie doch endlich!“ (28)

Wenige Nummern später verbreitet Scharnke die Nachricht, Flesch sei am Ende, es gebe schon einen Nachfolger. Hans Flesch aber geht nicht, sondern erhält öffentliche Schützenhilfe:

„Man verkündet pathetisch die Krise des Berliner Rundfunks. Man greift den Intendanten Dr. Flesch unbarmherzig und unsachlich an.
Wie ist die Situation wirklich? Statt sich mit der katastrophalen und unmöglichen Gebührenordnung der Reichspost auseinanderzusetzen, statt sich gegen die geheime Youngplansteuer zu wenden, statt dessen sucht man sich einen Sündenbock, und die Wahl fällt auf Dr. Flesch.“ (29)

Im April 1931 fordert Scharnke den Intendanten zum öffentlichen Disput:

„Ich fordere Sie nun hierdurch vor aller Öffentlichkeit heraus, mit mir zwanzig Minuten lang vor dem Berliner Mikrophon zu diskutieren über das Thema „Rundfunkhörer und Programmgestaltung!“

Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich auf das sonst übliche Honorar verzichte.

Vielleicht weichen Sie insofern einmal von Ihren Gepflogenheiten ab, als Sie mir möglichst umgehend darüber Bescheid zukommen lassen, ob und wann Sie meiner Herausforderung Genugtuung zu geben bereit sind.

Hochachtungsvoll
Reinhold Scharnke“ (30)

 

Doch Hans Flesch lässt den Fehdehandschuh liegen. Scharnke setzt noch einige Male nach, dann zieht er sich zurück und wechselt die Waffen. Er schreibt ein Buch über den Rundfunk mit dem Titel: „Wir schalten um!“, in dem er alles, was er weiß und gehört hat, was er ahnt und für möglich hält, zusammenmischt zu einem skandalträchtigen Schlüsselroman.

Ende des Jahres 1931 ist das Buch fertig.

Ende des Jahres 1931 schließt sich Reinhold Scharnke den Nationalsozialisten an. (31)

Stoff der Handlung sind Ereignisse und Personen des Berliner Funkhauses: zum Beispiel der Direktor der Funk-Stunde Friedrich Georg Knöpfke, der im Roman Zepke heißt, Alfred Braun alias Fred Brucks, Hindemith alias Liedemit und natürlich Hans Flesch, der im Roman zwar Hans Voß heißt, aber doch eindeutig durch die Schilderung des kleineren Auges (eine Kriegsverletzung) identifiziert wird.

„Das auffallend lange schmale Gesicht endete in einer hohen Stirn, die durch den ziemlich weit zurückliegenden Haaransatz noch größer erschien. Ein dünner schwarzer Scheitel bedeckte den Kopf. Das linke Auge war bedeutend kleiner als das rechte. Von beiden Flügeln der langen Nase führten ziemlich scharfe Furchen zu den Mundwinkeln, die durch etwas wulstige Ober- und Unterlippen verbunden wurden. Der Gesichtsausdruck des Intendanten behielt auch während des Sprechens etwas Starres, alle Worte kamen langsam, gekünstelt, gleichsam frisiert über die Lippen von Voß, auch ein gelegentliches Lächeln wirkte stets gezwungen, herablassend. Durch eine gewisse Blasiertheit der Bewegungen wurde der etwas dekadente Gesamteindruck von Dr. Voß noch verstärkt.“ (32)

Scharnkes Verleger Paul Zimmermann vom Aufbau-Verlag in der Invalidenstraße aber zögert, das Buch auf den Markt zu bringen. Anfang 1932 beschwert sich der Autor und schaltet einen Rechtsanwalt ein. Schließlich wird eine Auflage von 2000 Exemplaren gedruckt, aber immer noch nicht in den Buchhandel gebracht. Die Stapel liegen in den Räumen des Verlags. Auch die übliche Reklame für das Buch fällt aus. Wieder kommt es zu Mahnungen von Scharnkes Anwalt Dr. Dr. Frey und am 7. März 1932 zur Ankündigung einer Schadensersatzklage. Reinhold Scharnke hat von der Auflage inzwischen dreizehn Exemplare erhalten, von denen er einige weitergibt, um Besprechungen in die Welt zu setzen. (33)

Der „Berliner Herold“ kündigt am 6.März 1932 an:

„Riesen-Rundfunkskandal in Sicht
Sensationeller Zeitroman vom Rundfunk erschienen“

Dies ist nun genau der Zeitpunkt, an dem der Roman zu einer öffentlichen Angelegenheit wird. Auch Hans Flesch fällt ein Exemplar in die Hände, beziehungsweise wird ihm zugespielt. Man kann, ohne sich in allzu großen Spekulationen zu verlieren, annehmen, daß Hans Flesch das Buch ohne Vergnügen gelesen hat. Da ist die Schilderung der Intrigen bei seiner Berufung nach Berlin, wenn einer der dunklen Drahtzieher zu Fred Brucks alias Alfred Braun sagt:

„Überleg dir, bitte, mal folgendes: Wenn wir diesen jungen Mann hierher holen, dann werden wir ihn uns schon so ziehen, wie wir ihn brauchen, das heißt: Wir brauchen eine Puppe, einen Menschen, der ‚Intendant‘ geschimpft wird, in Wirklichkeit aber gar nichts zu sagen hat.“ (34)

Da ist die Schilderung seines ersten Zusammenstoßes mit Fred Brucks alias Alfred Braun, der ohne Rücksprache neue Hörspiele aufzuführen plante:

„Pardon! Pardon!! Herr Doktor“ – er konnte sich nie entschließen, Dr. Voß mit seiner Amtsbezeichnung ‚Intendant’ anzureden, was diesen sichtlich ärgerte – ‚ich bin dazu gar nicht verpflichtet! (…) Vielleicht lassen Sie sich von Herrn Direktor Zepke mal meinen Vertrag zeigen, dann werden Sie sehen, daß (…) mir für meine Abteilung absolute Selbständigkeit und Vollmacht zugestanden ist!’ (…) Der Intendant war kreidebleich geworden, er zitterte vor Wut, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. Er maß seinen Gegner mit einem langen haßerfüllten Blick, den dieser gelassen, mit einem leichten triumphierenden Zucken um die Mundwinkel, aushielt.“ (35)

Ob der wirkliche Intendant eher entrüstet über die ausgebreiteten Unwahrheiten war oder empört über die geschilderten Wahrheiten, das wissen wir nicht. Tatsache ist, dass Hans Flesch am 8. März 1932 Anzeige wegen Beleidigung erstattete, dass am 16. März die übrigen Exemplare des Romans beschlagnahmt wurden und dass aufgrund der Anklageschrift vom 4. April beim Amtsgericht in Berlin-Moabit Anklage gegen den Schriftsteller Reinhold Scharnke und den Verleger Paul Zimmermann wegen Beleidigung und übler Nachrede erhoben wurde.

Es fällt auf, dass Bredow selbst, der ja im Roman ebenfalls auftaucht, keine Anzeige erstattet, auch Knöpfke nicht oder Magnus oder andere im Roman verschlüsselt dargestellte Personen des Rundfunks. Wir wissen, dass Hans Bredow die Anzeige Fleschs gegen Scharnke für notwendig hielt und ausdrücklich billigte. Ob er aber Flesch zur Anzeige überreden musste oder ob er gar Druck ausübte, damit dieser überhaupt Anzeige erstattete, das schon wissen wir nicht. In der Prozessakte befindet sich ein Brief Bredows vom 8.3.1932:

„Sehr geehrter Herr Dr. Flesch!

Nachdem Sie mir Mitteilungen über den Inhalt des in den nächsten Tagen erscheinenden Schlüsselromans von Reinhold Scharnke gemacht haben, scheint mir folgender Tatbestand festzustehen:

  1. Ihre Person ist in dem Buch so scharf gekennzeichnet, daß es nicht nur den mit Rundfunkangelegenheiten näher bekannten Personen, sondern auch einem weiten Kreis anderer Persönlichkeiten unzweifelhaft sein muß, daß Sie mit dem genannten „Dr.Voß“ identisch sind.
  1. Die dem „Dr. Voß“, also Ihnen selbst, in dem Roman vorgworfenen dienstlichen Verfehlungen sind so schwerwiegend, daß das Ansehen des Rundfunks schwer darunter leiden müßte, wenn derartige Behauptungen unwidersprochen in die Welt hinausgehen.

Während ich sonst, wie Sie wissen, im allgemeinen auf dem Standpunkt stehe, daß die an der Spitze des Rundfunks stehenden Persönlichkeiten den Journalisten und Schriftstellern selbst noch so scharfe Angriffe nicht verübeln sollten und daher meistens von einer Klage abrate, muß ich in dem vorliegenden Fall einen anderen Standpunkt vertreten. Es handelt sich hier unzweifelhaft um einen Racheakt des Scharnke mit dem Ziel, dem Rundfunk, dessen bedeutendster Vertreter Sie sind, in der öffentlichen Meinung herabzusetzen. Aus diesem Grunde halte ich ein Vorgehen Ihrerseits für erforderlich und ich erwarte eine Mitteilung über das Veranlaßte.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Bredow“
(36)

Am 30. Mai 1932 wird der Prozess vor dem Schöffen-Gericht Berlin-Mitte eröffnet. Das Berliner Tageblatt schreibt:

„Das Gericht mußte angesichts des ungeheuren Andrangs des Publikums von dem kleinen Verhandlungssaal, in dem es sonst tagt, in den kleinen Schwurgerichtssaal des Kriminalgerichts umziehen.“ (37)

Die Deutsche Allgemeine Zeitung schreibt:

„Der Angeklagte Scharnke gab an, daß er seit fünf Jahren Schriftleiter der oppositionell gerichteten ‚Funk-Woche’ sei. Diese sei bestrebt gewesen, die Interessen der Künstler zu wahren, denen es trotz vorhandener Fähigkeiten nicht gelungen sei, vor das Mikrophon zu kommen. Außerdem vertrete sein Blatt die Wünsche der Rundfunkhörer, deren Unzufriedenheit immer mehr gestiegen sei. Seine Erfahrung mit dem ‚System’ habe er in Form eines Romans niedergeschrieben. Von vornherein habe ihm jede Absicht ferngelegen, einen Schlüsselroman zu schreiben.“ (38)

Der Berliner Börsen-Courier schreibt:

„Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten vor, daß er in den Artikeln der ‚Funk-Woche’ ständig in den schärfsten Ausdrücken den Nebenkläger angegriffen habe, so daß daraus zu folgern sei, er habe eine starke Antipathie gegen die Persönlichkeit des Dr. Flesch. Der Angeklagte erwiderte, daß er in der ‚Funk-Woche’ vorwiegend Berliner Interessen zu vertreten hatte, und daß er sich deshalb am meisten mit dem Leiter der Berliner Funk-Stunde beschäftigt habe.“ (39)

Rechtsanwalt Dr.Sack, der inzwischen Verteidiger Scharnkes ist, stellt mehrere Anträge. Zum Beispiel solle Hanns Heinz Ewers als Sachverständiger darüber gehört werden, dass das Buch nicht als Schlüsselroman anzusehen ist. Für den Prozessverlauf entscheidend aber ist der folgende Antrag:

„In Sachen Scharnke beantrage ich, den von dem Angeklagten verfassten Roman „Wir schalten um“ zur Verlesung zu bringen und geeignete Massnahmen zu treffen, dass die Verlesung durch Rundfunk übertragen wird.“ (40)

So kommt es zu einer in Moabit gewiss eher seltenen Szenerie. Vor den Ohren der Angeklagten, Schöffen und Zeugen, vor dem Publikum im Saal wird ein polizeilich konfisziertes Schriftstück von über dreihundert Seiten verlesen. Abwechselnd lesen der Autor Scharnke, der Ansager der Funk-Stunde Janecke und der Vorsitzende Amtsgerichtsrat Marggraf. Mit den hochoffiziellen Stimmen dieser Männer wird eine phantastische Skandalchronik aufgeblättert.

Da taumeln Intendanten, Direktoren und Künstler von einem erotischen Abenteuer zum andern. Da werden Posten nur aufgrund von Intrigen oder gegen Geld vergeben. Da kümmert sich keiner um die Meinung der Hörerschaft. Speziell der neue Intendant ist hochmütig und quält sie mit moderner Katzenmusik. Die kritische Presse wird durch Bestechung mundtot gemacht. Deutsche Künstler haben keine Chance, denn der Rundfunk bevorzugt Ausländer. Die Funkoberen verprassen Hörergelder und scheffeln zu ihren hohen Gehältern noch Tantiemen und Spesen, während das deutsche Volk unter der Krise leidet und die Gehälter der kleinen Funkangestellten immer weiter gesenkt werden. Doch es gibt eine Lichtgestalt. Auf den letzten Seiten erfahren die erzürnten Massen durch den tapferen Redakteur der Funkzeitung „Radio-Woche“ die Wahrheit. Sie stürmen das Funkhaus und nehmen es in ihren Besitz: „Wir schalten um!“

Hatte sich die Verteidigung so eine Art Aufbrausen des Volkszorns gewünscht, analog der Erstürmung des Funkhauses im Roman? Über die Wirkung des Romans im Gerichtssaal wissen wir nichts. Aber irgendetwas muss anders als wunschgemäß verlaufen sein. Am zweiten Verhandlungstag, bevor der Richter die Fortsetzung der Verlesung anordnet, stellt die Verteidigung überraschend den Antrag, nicht mehr alles vorzulesen, sondern nur noch bestimmte Stellen.

Und die Verteidigung Scharnkes ändert am zweiten Tag ihre Richtung um 180 Grad. Sie sagt nicht mehr: Der Roman ist kein Schlüsselroman und kann deshalb den Intendanten gar nicht beleidigen. Sie sagt: Der Roman ist zwar kein Schlüsselroman, aber wenn er vom Gericht als Schlüsselroman betrachtet wird, dann liefern wir den Beweis dafür, dass im wesentlichen alles stimmt, was da geschildert wird. Die Verteidigung bietet eine lange und bunte Liste von über zwanzig großen und kleinen Namen an, darunter Ludwig Manfred Lommel, Will Meisel, Gabriele Tergit; aber auch Erich Scholz, Hans Bredow und schließlich Hitler, Hugenberg und Thälmann. Sie alle sollen als Zeugen die geschilderten Missstände bestätigen. Mit andern Worten, die Verteidigung Scharnkes stellt den Antrag, alle Behauptungen über Geldverschwendung, Begünstigung, Cliquenwirtschaft, Benachteiligung deutscher und arbeitsloser Künstler, persönliche Bereicherung durch Tantiemeeinnahmen sollten vor Gericht verhandelt und überprüft werden.

Das wäre bestimmt interessant geworden. Da wäre bestimmt auch allerlei zu Tage getreten. Besonders, wenn nicht nur Hitler, Hugenberg und Thälmann, sondern alle Mitglieder des politischen Überwachungsausschusses und Kurt Magnus, Friedrich Georg Knöpfke, Alfred Braun, Cornelius Bronsgeest, Walter Gronostay usw. usw. hätten aussagen müssen. Und wenn die Verträge der einzelnen und die Tantiemen und Honorare und Spesen hätten untersucht werden müssen. Wenn mit andern Worten der ganze Weimarer Rundfunk in seiner speziellen Mischung von Staatsfunk und kapitalistischer Aktiengesellschaft vor Gericht gestanden hätte.

So aber richtete sich der Prozess gegen Hans Flesch allein.

Das Gericht lehnte alle Anträge der Verteidigung, den Wahrheitsbeweis zu führen, ab. Es beschränkte sich auf die im Roman geschilderten Vorfälle, „die grob ehrenrührig sind und die den Charakter des Buches als eines gegen Dr. Flesch gerichteten gröblich beleidigenden Pamflets (sic!) bestimmen.“ Weil aber die Angeklagten für all diese konkreten Vorfälle den Wahrheitsbeweis nicht angetreten hätten, weil außerdem beleidigende Ausdrücke wie „dummer Lümmel“ und „Rotzbengel aus der Provinz“ im Roman enthalten seien, verurteilte das Gericht nach zwei Tagen Verhandlung und einem Tag Verhandlungspause am 2. Juni 1932 den Angeklagten Reinhold Scharnke zu einer Geldstrafe von 600 Mark und seinen Verleger Paul Zimmermann zu einer Strafe von 300 Mark.

Über die Urteilsverkündung schreibt die Deutsche Allgemeine Zeitung:

„Der ganze Roman sei von A bis Z von Haß und Wut getragen, so daß man sein Ziel dahin charakterisieren müsse, daß er herabsetzen, verdächtigen und verächtlich machen wollte. Man könne aber auch nicht sagen, daß der Rundfunk reingewaschen dastehe, dazu fehle jeder Anlaß. Man könne lediglich sagen: „Wir wissen es nicht.“ (…) Dem Angeklagten sei wohl manches zugetragen worden, an dem vielleicht ein Körnchen Wahrheit war, aber es zu beweisen, war er wohl nicht in der Lage.“ (41)

Der Prozess war kurz und niemand konnte damit recht zufrieden gewesen sein. Der verurteilte Scharnke nicht, denn sein Roman wurde eingestampft, die Druckplatten vernichtet; erst 1935 darf das Buch wieder erscheinen. Die Öffentlichkeit nicht, denn es kam nicht zu dem großen Aufwasch, den manche erhofft hatten. Frank Warschauer, der seit Jahren die undurchsichtigen Finanzverhältnisse des Rundfunks attackierte, schreibt nach der Verlesung des Wälzers enttäuscht:

„Mißstände beim Rundfunk – niemand wird sie bestreiten und die Notwendigkeit ihrer Beseitigung. Aber Scharnkes Roman erweist sich zu diesem Zweck am wenigsten geeignet und legitimiert. Er greift fehl in seinen Mitteln wie in seinem Ziel. Stilistisch ist er geschrieben wie ein Hintertreppenroman, inhaltlich ist er eine Zusammentragung von Klatsch- und Tratschgeschichten, ein paar Gerüchte aus der Sphäre der chronique scandaleuse wuchern mit Halbwahrheiten und phantastischen Erfindungen wild durcheinander. Das sind nicht die Waffen, mit denen man einen Kampf führt.“ (42)

Auch Hans Flesch kann nicht zufrieden gewesen sein, hat er doch als einziger mit seinem Namen die Angriffe abwehren müssen. Der sachliche Teil der Vorwürfe wurde vor Gericht ausdrücklich nicht geklärt. Reinhold Scharnke fühlt sich ermutigt, seine Sache weiter zu verfechten. Er schreibt innerhalb von vierzehn Tagen eine Broschüre, die er mit der Formulierung des Vorsitzenden Richters Marggraf überschreibt: „Der Rundfunk steht nicht reingewaschen da!“ Hier führt er nun im Klartext an, was er an Beispielen für Korruption und unmoralischen Lebenswandel kennt. Hier nennt er Namen, keine Schlüsselnamen, hier zitiert er Briefe, hier ist es plötzlich Bredow, der intime Verhältnisse pflegt und hier werden auch Journalisten mit Namen genannt, die angeblich durch Engagements bei der Funk-Stunde gefügig gemacht worden sind.

Zwar wird nach dem Prozess eine amtliche Untersuchung im Reichspostministerium angeordnet, doch die interne Prüfung findet keine wesentlichen Mängel. Etwas anderes, viel Entscheidenderes passiert im Sommer 1932: Der Rundfunk eilt der großen Politik ein halbes Jahr voraus. Er erhält eine neue Ordnung. Er wird auf Volk, Familie und Deutschtum verpflichtet. Und das erste Zeichen dieser Neuordnung ist: Am 12. August 1932 wird Hans Flesch vom neuen Rundfunkkommissar Erich Scholz, der noch im Juli 1932 von der DNVP in die NSDAP wechselte, entlassen.

 

Anmerkungen

(1) Frank Warschauer, Rundfunk heute und morgen, in: Die Weltbühne 13.11.1928, S. 735f

(2) Hans von Heister, in: Der deutsche Rundfunk, 26.4.1929, Heft 17, S.1

(3) Kurt Weill: Wir fordern eine aktuelle Stunde, in: Der deutsche Rundfunk 25.11.1927

(4) Hans Flesch, Antrittsrede, Bundesarchiv Koblenz R 78/580 S.138. Das 13-seitige Redemanuskript ist handschriftlich mit „Juni 29“ gekennzeichnet. Aus der Wendung „… die dem Aufsichtsrat vorzulegen mir wichtig erscheint …“ auf S. 142 geht der Anlass hervor. Es enthält die Informationen, die Ende Juni an die Presse gegeben wurden.

(5) Hans Flesch, Der Rundfunk im Jahre 1930, in: Funk, 10.1.1930, S.5f

(6) Mn. in: Funk, 15.8.1930, S. 162

(7) Montag Morgen, 6. Mai 1929

(8) Hans Flesch, Antrittsrede, Bundesarchiv Koblenz R 78/580 S. 132ff

(9) Hans Flesch, Antrittsrede, Bundesarchiv Koblenz R 78/580 S. 142

(10) Hans Tasiemka, in: Der deutsche Rundfunk, 11.10.1929, H 41, S. 1308

(11) Hans von Heister in: Der deutsche Rundfunk, 4.4.1930, H14, S.9

(12) Bundesarchiv Koblenz R 78/580 p 187-188

(13) Paul Scholl, Berliner Rundfunk AB, in: Die Weltbühne 4.11.1930, S.689. Die Abkürzung „AB“ bezieht sich sowohl auf Alfred Braun als auch auf Arnolt Bronnen.

(14) Paul Scholl, Berliner Rundfunk AB, in: Die Weltbühne 4.11.1930, S.690

(15) Hans Flesch: Mein Bekenntnis zum Rundfunk, in: Funk 1925, S.445

(16) Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst, München 1979 (zuerst London 1936), S.87

(17) Hans Flesch: Hörspiel Film Schallplatte, in: Rundfunk-Jahrbuch 1931, S. 31, Abdruck einer Rede von 1928.

(18) Hans Flesch: Hörspiel Film Schallplatte, in: Rundfunk-Jahrbuch 1931, S. 32

(19) Hans Flesch: Hörspiel Film Schallplatte, in: Rundfunk-Jahrbuch 1931, S. 35

(20) Hans Flesch: Das Studio der Berliner Funk-Stunde, in: Rundfunk-Jahrbuch 1930, S.117

(21) Hans Flesch: Zukünftige Entwicklung des Rundfunkprogramms, in: Niederschrift der Sitzung des Programmausschusses der deutschen Rundfunkgesellschaften am 22./23. September in Wien 1930, S. 63

(22) Hans Flesch: Zukünftige Entwicklung des Rundfunkprogramms, in: Niederschrift der Sitzung des Programmausschusses der deutschen Rundfunkgesellschaften am 22./23. September in Wien 1930, S. 63

(23) Hans von Heister in: Der deutsche Rundfunk, 10. Oktober 1930, Heft 41

(24) Hans von Heister in: Der deutsche Rundfunk, 24.7.1931, H 30.

(25) Umfrage in: Der deutsche Rundfunk, 21.8.1931, H 34

(26) Umfrage in: Der deutsche Rundfunk, 21.8.1931, H 37

(27) Funk-Woche 1930, Nr. 11

(28) Funk-Woche 1930, Nr. 14

(29) Hans Tasiemka in: Der deutsche Rundfunk, 11.4.1930, Heft 15, S.9

(30) Funk-Woche 1931, Nr. 18 (1931) Während einiger Wochen erscheint die Zeitschrift mit einem Balken am Seitenende verziert, auf dem u.a. zu lesen steht: „… Dr. Flesch kneift … Es wird weiter gekniffen …“.

(31) „Im November 1931 meldete ich mich bei der Kulturabteilung der NSDAP, Gau Groß-Berlin, (…) als sympathisierender Schriftleiter. Ich war damals Hauptschriftleiter der ‚Funk-Woche’, und es wurden mir seitens der Partei bezügl. der Rundfunkpolitik bestimmte Sonderaufgaben zugewiesen, die ich auch auftragsgemäß durchführte.“
Berlin Document Center: Schreiben R. Scharnkes vom 15.11.1935 an den Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, dem er seinen politischen Werdegang schildert. Anlaß ist eine parteiinterne Denunziation. Scharnke ist am 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten.

(32) Ich zitiere die 1935 im Schildhorn-Verlag nachgedruckte Version des Romans „Wir schalten um!“, S.61

(33) Im Prozeß wird einen halben Tag lang zu klären versucht, wie die Exemplare aus der Druckerei verschwanden, unter welchen Umständen und an wen sie weitergegeben wurden. Flesch erhielt von Hans Rehberg ein Exemplar: Deutsche Allgemeine Zeitung 1.6.1932, Börsen-Courier 1.6.1932

(34) Reinhold Scharnke, Wir schalten um!, Berlin 1935, S. 52

(35) Reinhold Scharnke, Wir schalten um!, Berlin 1935, S. 77

(36) Die Prozessakte liegt im Landesarchiv Berlin: Rep 58 Acc 399 Nr. 2523 p 8-9. Auf die Frage des Richters, ob Druck auf ihn ausgeübt worden sei, antwortet Flesch: „Von einem Zwang oder einem Druck kann keine Rede sein“ (Berliner Börsen-Courier 3.6.1932). Im Urteil aber des zweiten Rundfunkprozesses (Revisionsprozess) vom 27.2.1937 steht der Satz: „Am 4. März 1932 ordnete Dr. Bredow an, daß Dr. Flesch und der Rundfunkangestellte Gronostay gegen Scharnke im Gesamtinteresse des Rundfunks vorgehen sollten.“

(37) Berliner Tageblatt 31.5.1932

(38) Deutsche Allgemeine Zeitung 31.5.1932

(39) Berliner Börsen-Courier 31.5.1932, Morgenausgabe

(40) Anlage zum Prozessprotokoll

(41) Deutsche Allgemeine Zeitung 3.6.1932

(42) Berliner Börsen-Courier 1.6.1932, Abendausgabe.