Marianne Weil
Texte, Features, Radiocollagen
zurück

Wilde Tiere in Berlin

Regie: Judith Lorentz
Mit: Verena von Behr, Jörg Gudzuhn, Shorty Scheumann, Sabin Tambrea, Ingo Hülsmann, Carsten Andörfer
Ton: Thomas Monnerjahn
Produktion: DKultur 2009
Länge: 54’23

Chi Chi 1958, Tierpark Berlin

 

Anfang des Stücks, Länge: 7’48

 

In Berlin, der Hauptstadt des Kalten Krieges, entsteht 1955 ein neuer Tierpark – als sozialistischer Gegenentwurf zum Westberliner Zoo. Und schon schwingen bei all den zoologischen Themen die politischen Ober- und Untertöne mit: Freigehege für gefangene Tiere, Gitterstäbe und Wassergräben, Territorialverhalten, Fressfeinde und Angstbeißer.

Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass ein Zoo oder Tierpark oder auch zwei solcher Einrichtungen in derselben Stadt zum Aufreger werden konnten. Aber so war es: Der ostberliner Tierpark und der westberliner Zoo standen in einem hochpolitischen Wettbewerb zueinander. Der eine im kommunistischen Osten, der andere im kapitalistischen Westen. Der Tierpark war ein Gegengründung aus dem Jahr 1955. Die Stadt Berlin hat aus dieser Zeit der Spaltung so einige Doppelungen: Die Freie Universität als Alternative zur Humboldtuniversität, das Funkhaus Nalepastraße als Alternative zum Funkhaus in der Masurenallee, die Westoper in der Bismarckstraße als Gegenstück zur Staatsoper Unter den Linden.

Meine Redakteurin Stefanie Hoster, die in den 1990ern in die Stadt kam, hatte einen unbefangenen Blick auf die eingefleischten Wessis und Ossis dieser Stadt. Sie registrierte unverständliche Allergien auf beiden Seiten, zum Beispiel, dass es Berliner gab, die aus Prinzip nicht die Tiere im jeweiligen anderen Teil der Stadt besuchten. Eines Tages sagte sie: mach doch mal was zum Tierpark und zum Zoo – irgendetwas ist da merkwürdig.

Ja, sagte ich und freute mich auf Tigergebrüll im Raubtierhaus oder die Fütterung der Seelöwen. Ich dachte auch sofort an diese beliebten Radiofolgen, die es in beiden Stadthälften gab. Irgendwann stieß ich auf einen merkwürdigen Streit über die Größe der Gehege, der die biologische Dimension überstieg. Ich las in den Zeitungen, dass der Tierpark größer als der in New York oder Chicago werden sollte, dass die engen Gehege des westberliner Zoos kritisiert wurden und die neuen großzügigen Freigehege des Tierparks angepriesen wurden. Das fand ich interessant.

Zu meiner Enttäuschung stellte ich fest, dass sehr viele Reportagen und Radiofolgen nicht mehr existierten – in dieser Zeit, den 50er und 60er Jahren war Tonbandmaterial knapp und wurde regelmäßig überspielt. Doch ich kannte ja den Tonfall und wusste, wie solche Reportagen geklungen haben mussten. Ich fand in den aktuellen Zeitungen seitenlang plastische Schilderungen von der Eröffnung des Parks, den Tierparaden auf dem Kurfürstendamm und der Frankfurter Allee. Da beschloss ich, all diese Reportagen, die nicht archiviert worden waren, zu rekonstruieren. So entstand langsam ein Text. Regisseurin Judith Lorentz hat den Reporter auf das Dach des Hörspielstudios gestellt und die vielen Geschichten zum Klingen gebracht: wie die Pandabärin Chi Chi aus China, die eigentlich in den Zoo von Chicago verkauft werden sollte, bei einem wochenlangen Zwischenstopp im ostberliner Tierpark besichtigt werden konnte, weil sie keine Einreisepapiere bekam, wie die Vorführungen der Giftschlangen im Tierpark zu Spekulationen in Westberlin führten, woher das Gift der Stasi wohl stammte, bis hin zum Ende des Stücks im Piranha-Becken, in dem zwei hochaggressive Tiergruppen vom Typ Angstbeißer in einem zoologischen Experiment lernten, das gemeinsame Territorium zu teilen anstatt sich gegenseitig aufzufressen.

SKRIPT

Wilde Tiere in Berlin