Marianne Weil
Texte, Features, Radiocollagen
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Das Märchen von der Wiedervereinigung

Erzählt von Konrad Adenauer und Elke Heidenreich
Produktion DLR Berlin/RB 1999

Das Märchen von der Wiedervereinigung ist der aus dem Archiv rekonstruierte Urtext der Vision Konrad Adenauers zur Wiedervereinigung: ein politisches O-Ton-Märchen – absolut authentisch und absolut phantastisch.

Es war einmal ein schon ziemlich alter Mann, der ein äußerst schwieriges politisches Problem lösen sollte: die Wiedervereinigung seines in zwei Staaten geteilten Vaterlandes. Der alte Mann riet zur Geduld, denn er hatte einen Plan. Er wusste, wie man die Wiedervereinigung erreichen kann.

Er sagte, die Sowjets reden nur mit einem starken Land. Deshalb müssen wir stark werden und uns mit anderen starken Ländern verbünden. Er wollte deshalb in die NATO, was ihm auch gelang. Und wirklich, kaum war die Bundesrepublik Mitglied der NATO geworden, da kam eine Einladung aus Moskau an den Bundeskanzler Konrad Adenauer, der bisher immer nur als „Kriegshetzer“ bezeichnet wurde. Jetzt ist es soweit, dachten alle, jetzt ist der Augenblick gekommen, wo die Vision des alten Kanzlers sich erfüllen würde und wo er aus einer Position der Stärke den Sowjets Zugeständnisse abtrotzen könnte.

Der Kanzler fuhr mit einem Riesentross von über hundert Leuten nach Moskau. Die Septembersonne schien vom blauen Himmel, man schüttelte sich die Hände. Die Gespräche zwischen den beiden ehemaligen Feinden begannen. In der Bundesrepublik hingen die Menschen am Lautsprecher. Wie würde der alte Mann in der Höhle des russischen Bären auftreten. Wann würde er über die Wiedervereinigung sprechen, wann über die Oder-Neiße-Linie. Doch nichts von alle dem geschah. Nach sechs Tagen flogen die Deutschen wieder in ihre Heimat. Von Wiedervereinigung war keine Rede. Und dabei blieb es. Der alte Mann ist der Wiedervereinigung keinen Zentimeter nähergekommen.

Er hat es einfach nicht geschafft.

Nicht mit Geduld und nicht mit Ausdauer.

Nicht mit Stärke und nicht mit NATO.

Und wenn er nicht gestorben wäre, dann hätte er noch erlebt, dass zwar alles anders gekommen ist, als er vorhergesagt hatte, dass ganz andere Leute mit ganz anderen Ideen an die Macht gekommen sind – das waren seine politischen Gegner. Dass aber dann, als wirklich niemand mehr daran dachte, plötzlich doch der Tag kam, an dem die Sowjets die Zone zurückgegeben haben.

Wie im Märchen.

Nur, dann war es keine Zone mehr.

Und deshalb wurde es auch keine Wiedervereinigung.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Marianne Weil hat Konrad Adenauer stundenlang zugehört – wie er im Parlament die angriffslustigen Russen schilderte, wie er auf Parteitagen die Weltlage darlegte, wie er die Brüder und Schwestern in der Zone tröstete, wie er über die Lehren der Geschichte nachdachte und über die Dummheit der Menschen seufzte. Aus all diesen Archivtönen rekonstruiert sie den Urtext seiner Vision von der Wiedervereinigung: ein politisches O-Ton-Märchen – absolut authentisch und absolut phantastisch.

 

Das Hörspiel ist im Audio-Verlag erschienen. Die CD ist vergriffen.

CD Audio Verlag 2004

 

Skript

Das Märchen von der Wiedervereinigung