Marianne Weil
Texte, Features, Radiocollagen
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Hanspeter Krüger

Hanspeter Krüger, Zeichnung: Jonas Geist

 

Meine erste Begegnung mit Hanspeter war eine Kalte Dusche, die ich mit kleiner Verzögerung auch als solche verstand. Ich hatte einen jungen Schriftsteller interviewt. Hatte mich wie verrückt vorbereitet, hatte Null Ahnung, wie man so etwas macht und war auch technisch ohne Erfahrung. Dann irgendwann stand ich mit meinem sony professional im Studio, wo der Umschnitt auf das übliche 38er Tonband stattfinden sollte. Wenigstens das hatte ich rechtzeitig kapiert: man löscht nicht, was man nicht gebrauchen kann, sondern man kopiert, was man senden will. Auf der Kassette war daher noch alles drauf. Hanspeter, der Redakteur, stand mir zur Seite. Beim Suchen nach den brauchbaren Ausschnitten hörte man – peinlich! – vor und nach den ausgewählten Stellen jede Menge Kraut und Rüben von meiner Vorbereitung. Irgendwann sagte er den vernichtenden Satz: Diese Interviewerin weiß ja viel besser Bescheid über das Werk des Autors als der Autor selbst. Darin war Hanspeter gut. Verpackte Kritik, Ironie, hingeworfene Handschuhe, die man sich schon selbst anziehen musste, wenn das mit dem Radio etwas werden sollte.

Mehr als zehn Jahre später – wir hatten inzwischen ein paar Sendungen gemacht – lud er mich zu einem größeren Projekt ein. Das damals noch eingesperrte Westberlin veranstaltete in einer Parallelaktion zu Ostberlin die 750-Jahr-Feier der Stadt. Für sfb3 hatte Hanspeter die Idee, ein langes langes Hörrohr in die Radiogeschichte zu richten. Dafür sollte ein ganzer Sonntag reserviert werden. Man muss sich das einmal vorstellen! Alle gewohnten Sendungen, von Nachrichten abgesehen, wurden gestrichen. Zwölf Stunden lang wurde ORIGINALTON BERLIN gesendet. Das erste Mal am 24. Mai 1987, zwei weitere Sonntage folgten.

Diese O-TON-BERLIN-Sonntage vorzubereiten, war ein Heidenspaß. Ich hörte zum ersten Mal das politische Geschrei im Reichstag, die pathetischen Literaten Becher, Toller, Döblin, die mal eleganten mal deftigen Chansons der noch nicht vertriebenen Friedrich Hollaender, Curt Bois und Paul Graetz, die Stimmen von Max Reinhardt, Gustaf Gründgens, Erwin Piscator. Dann kam der Naziton. Der Nachkriegston. Der Viermächteton. Der Kalte-Kriegs-Ton. Zum ersten Mal machte ich die faszinierende Erfahrung, wie ein sehr vergangenes Ereignis lebendig aus dem Lautsprecher springen kann, singend, schreiend, krächzend. Entdeckte den Witz historischer O-Töne, diesen Kontrapunkt von historischer Distanz und sinnlicher Präsenz. Hier materialisierte sich, was ich bei Walter Benjamin gelernt hatte: die ästhetische Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne.

Hanspeter liebte das Archiv und ließ mich rein, was keineswegs selbstverständlich war. Denn es gab noch in den 1980er Jahren unglaublich viele, unglaublich gut begründete Einwände gegenüber Laien, die um Himmels willen kein Archivband berühren sollten. Die Angst vor Bandsalat, zerrissenen, gelöschten Bändern war groß. Tatsächlich lagen ja im Archiv Raritäten, Aufnahmen, die seit Jahren keiner gehört hatte. Unikate. Mit mürbe gewordenen Klebestellen zusammengehaltene kuchentellergroße Magnettonbänder. Ich hörte das Wort „Katastrophenbobby“ bevor die Katastrophe passierte. Heute kann ich es ja zugeben: einmal habe ich den Katastrophenbobby gebraucht. Das funktionierte super.

Hanspeter war der erste, der mir vorführte, dass es auch einen anderen als den respektvollen Umgang mit Archivtönen gibt. Er spielte mir „Lernt Rheinisch mit dem Bundeskanzler“ vor, eine ebenso alberne wie analytische wie denkmalsverhöhnende Adenauer-Persiflage mit dem berühmten, von der Posaune phrasierten Satz „Holen Sie mal einen aus Tanger heraus“. Dafür hatte er stundenlang Archivbänder durchsucht und Takes präpariert. 1963 erschien das Werk – Jahre vor Ludwig Harigs „Staatsbegräbnis“ und Ror Wolfs „Fußball-Collagen“.

Er hatte mich angesteckt. Und als nach 1989 die ostberliner Archive sich öffneten, wurde es richtig spannend. Denn zur Lust am Suchen und Finden kam die Erfahrung des Exotischen in unmittelbarer Nachbarschaft. Wir machten eine Sendung nach der anderen und spielten die Archive der vielgeteilten Stadt Berlin gegeneinander aus. Rüttelten die abgelegten Erinnerungen aus dem Regal, rissen das Material aus den bis 1989 herrschenden Zusammenhängen und richteten es neu an. Ost gegen West – West gegen Ost. Und präsentierten die Erfahrung, dass Vergangenheit nicht einfach im Singular existiert.

Hans Flesch war ein anderer Fall von Geschichtsblindheit, der Hanspeter interessierte. Es ging um die verschwiegene, beschönigte, unvollständige, bereinigte Geschichte des Hauses, in dem er arbeitete. Der erste Intendant des SFB hieß Alfred Braun, aber der erste Intendant im „Haus des Rundfunks“ war Hans Flesch. Der eine wurde gewürdigt, den anderen kannte kaum einer. Hans Flesch hat zwischen 1929 und 1932 als Intendant des größten deutschen Senders eine Fülle von Programmideen entwickelt, die damals ebenso revolutionär wie umstritten waren. Flesch war ein Neuerer, der viele politische und ästhetische Gegner hatte. Alfred Braun gehörte zu seinen Gegenspielern. Doch bis auf den Tag dominiert der politisch anpassungsfähige Alfred Braun die offizielle Geschichtsschreibung des Hauses. Und der Pionier Hans Flesch, der nichts mehr sagen konnte, weil er nach 1945 leider tot war, steht am beschnittenen Rand des Bildes. Hanspeter tat, was ein Redakteur tun kann. Er machte Sendungen. Ließ mich forschen. Eigentlich sollte auch ein Buch entstehen über Hans Flesch. Aber daraus wurde nichts.

Unsere SFB-Chronik wurde eine dicke Niederlage, mit der wir vielleicht hätten rechnen können. Anlass war die bevorstehende 40-Jahr-Feier zur Gründung des SFB. Hanspeter, ein Gegner von Jubelreden, schlug eine nüchterne Bilanz vor, eine Chronik. Kein Pathos. Wir sammelten also Namen, Programme, Ereignisse, auch solche, in denen der SFB nicht glänzte. Dann ließen wir eine vorläufige Version durchs Haus gehen. Unsere Darstellung stieß auf Widerspruch. Vielleicht war sie auch nicht gut genug. Auf jeden Fall wurde sie nicht akzepiert.

Das letzte Mal hat Hanspeter mich vor einem Jahr überrascht. Ich besuchte ihn wegen Ernst Schnabel, der 1962 zusammen mit Rolf Liebermann in Hamburg das berühmte Nachtprogramm erfunden hatte, das eine westberliner Dependance im SFB hatte und einen dafür eingestellten jungen Redakteur namens Hanspeter Krüger. Ich wollte ihn zu Ernst Schnabel befragen, mit dem er so lange zusammen gearbeitet hatte. Da stand Hanspeter also im Januar 2020 mit fast 83 Jahren, schon etwas gebrechlich, vor seinen hohen Bücherregalen, fand wirklich alles und drückte mir ein Schnabelbuch nach dem andern in die Hand. Er erzählte mir auch, was ich hören wollte über diese einzigartige Stimme Schnabels, diese zivile, persönliche, dialogische, unglaublich zugewandte Art des Sprechens, die damals im Radio nicht üblich war. Dann kam eine Pause und Hanspeter sagte, man solle sich nicht täuschen. Jedes Wort, jedes Zögern, jede Pause, jeder Einschub sei auf Papier notiert gewesen. Nichts sei spontan gewesen, nichts improvisiert. Das hatte mir noch niemand erzählt, das war ganz neu. Ein bisschen ähnlich wie Schnabel klang da Hanspeters Stimme.

 

Aus:

Hanspeter Krüger 1937-2020. Wir erinnern uns
Herausgegeben von Hanns Zischler und Mathias Greffrath
Privatdruck 2021